UNGELEBTES LEBEN

Geschrieben am 12.09.2025
von Joachim Heisel


Wenn wir an unser „ungelebtes“ Leben denken, das der Alltag unter sich begraben hat, kann uns manchmal Schmerz oder Bitterkeit überfallen. Hinzu kommen im Laufe der Jahre das Alter und die Einschränkungen, die es mit sich bringt.

Ein Patient sagte mir: „Das Alter ist wie ein Trichter. Es wird immer enger. Man kann oben hineinschütten, soviel man will, es kommt unten immer das Gleiche heraus.“ Während früher alte Menschen durch ihre Lebenserfahrungen, die sie in Beruf und Familie gesammelt hatten, gesuchte Ratgeber waren, empfinden sich heute viele ältere Menschen als überflüssig, weil sie keine Aufgabe mehr wahrnehmen können und sich nutzlos vorkommen. 
Kreativen Menschen bietet sich heute vielleicht noch am ehesten die Möglichkeit, ihr zunehmendes Lebensalter als positiv zu erfahren. Sie vergleichen das Leben nicht mit einem Glas Limonade, das mit jedem Schluck leerer wird. Sie vergleichen es mit einem Wein, der im Laufe der Zeit reifer und köstlicher wird.

Aber jeder von uns kann kreativ sein, indem er die Möglichkeiten nutzt, die ihm bleiben: durch ein gut geführtes Gespräch, durch die liebevolle Betreuung von Menschen, die ihm nahe stehen, durch Sorge für Tiere und Pflanzen oder für materielle Dinge, die uns am Herzen liegen.

Die Zeit ist eine große Lehrmeisterin. Das Alter wird heute manchmal bloß negativ gesehen. Es ist aber auch eine Zeit der Ernte. In diesem Sinne bezeichnete Cicero das Alter als den „Herbst des Lebens“. „Das Alter ist gleichsam die Hoch-Zeit jener Weisheit, die im Allgemeinen Frucht der Erfahrung ist“ (Johannes Paul II., Brief an die alten Menschen).

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