NÄHE MIT ABSTAND

Geschrieben am 10.05.2020
von Joachim Heisel


In der gegenwärtigen Situation wird uns ein Maß vorgegeben. Wenn wir es nicht einhalten, droht Bußgeld. Die Experten haben es festgelegt: Eineinhalb Meter müssen wir uns den Nächsten vom Leib halten, damit er uns nicht mit seinem Coronavirus anstecken kann und wir selber ihn auch nicht. „Seid umschlungen Millionen“ wie es im Lied an die Freude von Friedrich Schiller, jetzt Europa-Hymne – heißt, ist jetzt gefährlich!

Die Maßnahme ist sachlich angemessen – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie widerspricht aber dem Wesen des Menschen, der nach dem Philosophen Aristoteles (385-323 v. Chr.) ein „Zoon politkon“ ein soziales Wesen ist. Wenn dann noch eine Maske vor seinem Gesicht ist, wird es doppelt schwierig, Nähe herzustellen. Als ich neulich in einer Kirche war, glaubte ich, einen alten Freund entdeckt zu haben. Aber wegen der Maske, die er trug, war ich mir nicht sicher. Als er hinausging folgte ich ihm und stellte auf der Strasse fest: Er war es nicht.

Wie können wir Nähe trotz Abstand herstellen? Das wird über die nächsten Monate notwendig sein, wenn wir nicht in eine kollektive Psychose geraten sollen.

Man kann sich auch mit Abstand unterhalten, auch auf der Strasse oder bei einem Spaziergang. Da haben es jetzt die Hundebesitzer einfacher. Sie haben immer einen gemeinsamen Gesprächsstoff: die Gesundheit ihrer Lieblinge und was sie am liebsten mögen. Aber sich deshalb jetzt einen Hund anzuschaffen, wäre nicht unbedingt eine gute Idee.

Es gibt die Möglichkeit, jetzt Nachbarn zu grüßen, an denen man bisher achtlos vorübergegangen ist, vielleicht sogar ein Gespräch zu führen, oder statt stumm und missmutig in einer Schlange zu stehen, mit dem Nächsten in der Reihe zu sprechen. Das braucht nichts Weltbewegendes zu sein. Die Masken machen uns ja auch nicht besonders kommunikativ. Kurz nach der Wende hörte ich einen Vortrag über das Leben in der DDR. Ein junger Mann sprach davon, dass er mit einer gewissen Nostalgie daran denke, wie man sich in der Schlange vor den Läden über all die Dinge unterhalten habe, die es nicht gab und wie leicht es war, Nachbarn um etwas zu bitten, das man gerade selbst nicht im Haushalt hatte. Bei Aldi und Lidl habe er beobachtet, wie die Leute wortlos und möglichst schnell all die Dinge, die es in Fülle gibt, in ihre Körbe warfen. Mangelzeiten schaffen Gesprächsthemen und bieten Gelegenheiten  zu helfen, die es sonst nicht gibt.

So fand ich bei einem Spaziergang an einem Laternenpfahl ein Schreiben mit der Handynummer eines jungen Ehepaars, das sich anbot, in seiner Pfarrei unentgeltlich Einkäufe für ältere Menschen zu machen, die das Haus besser nicht verlassen sollten. Die Krise trägt auch Früchte der Nächstenliebe.

Statt uns zu ärgern kann die Zeit des Wartens in einer Schlange vor einem Geschäft uns Anlass zur Besinnung sein. Wenn wir gläubig sind, kann es eine Gelegenheit sein, sich mit den Menschen um uns innerlich zu beschäftigen und für sie zu beten. Wenn wir an eine Vorsehung glauben, ist es schließlich kein Zufall, dass wir in diesem Moment und unter diesen Umständen zusammen sind. Jeder Augenblick ist wichtig und im Blick Gottes geborgen. Alles ist Fügung - auch wenn ich mit unbekannten Menschen in einer Schlange stehe. Die „verlorene Zeit“ kann Gelegenheit zu spiritueller Begegnung werden. Auch bei Jesus war es so: Er saß an einem Brunnen, wartete auf seine Jünger, die beim Einkaufen waren, und ruhte sich aus. Da kam eine Frau, um Wasser zu schöpfen. Obwohl er müde war, begann er ein Gespräch mit ihr, das damit endete, dass sie ihn als den Messias erkannte und das ganze Dorf, wo sie wohnte, für Jesus gewann (vgl. Joh 4,1-42).

Wir können jetzt lernen, dass Nähe nicht unbedingt ein Synonym für Liebe ist. Manchmal hält uns Nähe sogar von Sympathie ab, wenn die Menschen, denen wir nahe sind, uns nicht gefallen oder uns auf die Nerven fallen. Wer jemanden gern hat, den hält auch erzwungene Distanz nicht davon ab, seine Zuneigung zu zeigen. Es gibt eine ganze Literatur von Briefwechseln, die das bezeugen. Heute haben wir Telefon, Zoom und Skype, um unseren Lieben nahe zu sein. Manchmal lernen wir auch erst in der Distanz zu schätzen, was eine Person für uns bedeutet.

Nächster Blog am 15.5.20