JEDEN GRASHALM LIEBEN

Geschrieben am 26.08.2020
von Joachim Heisel


Bei einem Besuch bei einer Familie, von der ich dachte, dass sie im Kern noch christlich wäre, kamen wir auf das Thema Dankbarkeit zu sprechen. Ich hatte schon früher bemerkt, dass sie kein Tischgebet mehr sprachen. So traute ich mich, zu sagen, dass es wichtig wäre, ein Dankgebet zu den Mahlzeiten zu sprechen. Dadurch könnten die Eltern indirekt darauf verweisen, dass die Speisen auf dem Tisch nicht nur Frucht ihrer Arbeit und Bemühung sind, sondern dass es noch einen anderen Adressaten für einen Dank gäbe. Das könne die Eltern insofern entlasten als sie nicht allein stehen mit ihrer Verantwortung für die Familie. Darauf sagte der Familienvater, das könne er nicht, weil er nicht an Gott glaube. Er könne auch allen Menschen gegenüber dankbar sein, ohne an Gott zu glauben. Mag sein, dass er das kann, aber in seinem Leben entsteht ein Hohlraum, den er nicht füllen kann, wenn er für alles Mögliche dankbar ist aber nicht für die Welt und für sein Leben. Und auch seine heranwachsenden Kinder werden nur schwer dankbar sein können, wenn sie von ihrem Vater erfahren, dass es reiner Zufall ist, dass sie auf der Welt sind.

Vor etwa 150 Jahren - quasi zu Beginn des atheistischen Zeitalters-  schrieb Dostojewski in seinem Roman „Der Jüngling“ folgende prophetischen Worte: „Die Menschen, zu Waisen geworden, würden sich alsbald aneinanderdrücken, näher und zärtlicher, sich bei den Händen fassen im Bewusstsein, dass sie fortan füreinander da sind, Dann verschwände auch die große Idee der Unsterblichkeit, man würde sie ersetzen müssen; die ganze überschwängliche Liebe für den, der die Unsterblichkeit war, würde auf die Natur, die Menschheit, jeden Grashalm abgelenkt…Und jetzt würden sie wach und beeilten sich, einander zu umarmen, hätten es eilig mit der Liebe, denn sie wüssten ja, dass ihre Tage vergänglich sind und dass ihnen nichts anderes verbleibt. Sie würden füreinander arbeiten, und jeder gäbe allen alles und wäre dadurch glücklich. Jedes Kind wüsste und fühlte, dass jeder Mensch auf Erden ihm ein Vater und eine Mutter ist.“ Es ist die Frage, wie lange wir es durchhalten, uns gegenseitig zu lieben wie Väter und Mütter oder auch wie Brüder und Schwestern ohne dass wir einen gemeinsamen Vater haben?

Wenn ein Kind zur Welt kommt, lieben es seine Eltern ohne Bedingungen, weil es i h r Kind ist, von ihrem eigenen Fleisch und Blut. Später stellen sie fest, dass ihr Kind ein eigenes Wesen ist, mit eigenem Charakter und eigenem Willen, der ihrem eigenen manchmal nicht entspricht. Von da ab müssen sie neu lernen, dieses Kind zu lieben - selbstlos zu lieben. Am Anfang unserer Existenz sollte auch eine solche Liebe stehen, damit wir Vertrauen in diese Welt fassen und auch Kraft, selbst  zu lieben. Die Botschaft von einer solchen Liebe ist das Herz des Evangeliums: Johannes spricht es aus: „Das ist die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns  geliebt hat und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. Liebe Brüder, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben (1 Joh 4,10-11).“ Ein Wesen, das lieben soll, muss selber einmal erfahren haben, was Liebe ist.

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