WIE ICH OBERFRANKE WURDE

Geschrieben am 14.01.2022
von Joachim Heisel


Als ein bayerischer Polizist bei einer Verkehrskontrolle in München meinen Ausweis mit dem Geburtsort Coburg sah, meinte er: „Sie sind Oberfranke.“ „Nein“, sagte ich, „ich bin nur da geboren, aber im Rheinland aufgewachsen.“ „Dann sind sie trotzdem Oberfranke“, war seine Antwort. „Mia san mir“, einmal Bayer, immer Bayer…! Coburg liegt fast schon in Thüringen, sozusagen in der Schwanzquaste des bayerischen Löwen. Erst im Jahr 1919 hatten sich die Coburger bei einer Volksabstimmung für die Zugehörigkeit zu Bayern statt Thüringen entschieden; Glück für sie, denn sonst wären sie später für 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden.

Wieso ich da geboren wurde?

November 1944. Im Westen Deutschlands rückte die Kampffront immer näher auf Trier, meine Heimatstadt,  und den Rhein zu. Das Nazi-Regime ordnete eine weitgehende Evakuierung im Westen an. Das war der administrative Ausdruck für kriegsbedingte Umsiedlung in einen Landesteil, der weiter von der Front entfernt war. Im Westen rückten die Amerikaner immer weiter vor und standen schon nahe der deutschen Westgrenze. Also wurden aus Trier Zivilisten weitgehend evakuiert, damit die Wehrmacht  freie Hand für die Verteidigung der Stadt hatte.

Ich fand einen Berechtigungsschein vom 29.11. 44 für eine  „Umquartierung“ in den Unterlagen meiner Mutter und eine Bescheinigung zur Benutzung der Eisenbahn mit dem Zielort Coburg, wo sie bei Verwandten eines  Kriegskameraden eine Unterkunft in Aussicht hatte. „Wegzug wegen Umquartierung“  nur in Verbindung mit einem Lichtbildausweis. Jeder Missbrauch wird strafrechtlich verfolgt. So stand es auf dem Schein.

So musste auch meine Mutter, schon hochschwanger im siebten Monat von Trier über Landau, wo mein Vater als Soldat stationiert war, nach Coburg in Nordbayern flüchten. Wahrscheinlich war es eine Reise unter Lebensgefahr, auf Güterzügen, mit Unterbrechungen, Bombenalarmen, möglicherweise auch schon Tieffliegergefahr.

Unter den Fotos meiner Mutter fand ich das Bild von einer Frau Danz aus Coburg. Sie war eine sympathische, mütterlich aussehende Frau in den Fünfzigern. Sie hat meiner Mutter  Asyl in ihrem Haus gewährt, obwohl es schon voller Flüchtlinge war. Als meine Mutter mit  einem Koffer in der Hand und mit mir im Bauch vor ihr stand, sagte sie ein Wort, das meine Mutter mir überliefert hat. Das Wort, das sie meiner Mutter sagte, lautete: Wo ein Häslein, da ist auch ein Gräslein.

Wie meine Mutter mir später erzählte, flogen in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1945 anglo-amerikanische Bomberverbände über das Haus von Frau Danz im obersten Dachgeschoss, in dem ich auf die Welt kommen sollte , um Bomben auf Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage, zu werfen und das ehemalige Schatzkästlein des Heiligen Römischen Reiches in Schutt und Asche zu legen.

Der Angriff hätte auch Coburg gelten können oder es hätte  leicht passieren können, dass die Bombenflugzeuge auf dem Rückflug, wie es häufig geschah, übriggebliebene Bomben auch auf Coburg abgeworfen hätten. Zum Glück war das nicht der Fall, sonst hätte mein Leben schon nach wenigen Stunden enden können und alles Spätere hätte nicht stattgefunden. So leicht war das damals. Vielleicht ließ die Royal Air Force Coburg beim Bombenterror aus, weil Prinz Albert (1819-1861),  der Gemahl der englischen Königin Victoria (1819-1901) aus dem Hause Coburg Sachsen-Gotha stammte und dessen Denkmal auf dem Marktplatz der Stadt steht,  und  somit ein fast verwandtschaftliches Verhältnis zu Coburg bestand.

Da ich gerade auf die Welt kommen sollte, ging meine Mutter nicht in den schützenden Keller, sondern blieb oben in ihrem Zimmer unter dem Dach. Frau Danz blieb bei ihr. Es war Winter und kalt und man hatte meiner Mutter  alle verfügbaren Pullover des Hauses angezogen, weil Holz für den Ofen nicht vorhanden war. Auch ein Arzt war nicht verfügbar. Er konnte wegen der drohenden Luftangriffe nicht kommen. Eine Hebamme akm noch in letzter Minute.- Wie musste der jungen Frau von 25 Jahren zumute gewesen sein: Fern von Heimat und Familie in fremder Umgebung und vom möglichen Tod bedroht. Ob sie ihren Mann noch einmal wiedersehen würde, war ungewiss. Ich habe später auf einer Entbindungsstation gearbeitet und weiß, wie groß die Not einer entbindenden Frau sein kann.

 Betet, dass eure Flucht nicht in den Winter fällt, heißt es schon im Neuen Testament (Mt 24,20).

Die Flucht vieler Kriegsmütter fiel in den Winter 1944/45. Sie mussten teilweise in Straßengräben bei Kälte und Schnee von Tieffliegern bedroht ihre Kinder zur Welt bringen und nicht wenige der Kinder und Mütter verloren dabei ihr Leben. Und alles das, weil ein Mann einen Krieg wollte.

Meine Mutter war also mit mir von Trier im äußersten Westen nach Coburg in Nordbayern, fast schon in Thüringen, in der Schwanzquaste des Bayerischen Löwen geflüchtet.

Auf diese Weise bin ich Bayer und Oberfranke  geworden, wie so mancher in dieser Kriegszeit irgendwo in Deutschland zur Welt kam, wohin die Kriegswirren seine  arme Mutter gerade verschlagen hatte. Ich hatte Glück, denn ich kam mit einem Dach über dem Kopf zur Welt und meine Mutter war bei Menschen untergekommen, die sie gut behandelten und die alles taten, um ihre schwierige Lage zu erleichtern.

Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, aber auch wenn wir in unseren Alltag schauen, werden wir viele Werke der Barmherzigkeit finden, die uns andere Menschen tun und getan haben oder die wir selbst getan haben und tun.

Im Matthäusevangelium (Mt 25,31-46) schildert Jesus wie die sogenannten Werke der Barmherzigkeit das  Einlassticket in das Reich des Vaters sind: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen.

Im Fall meiner Mutter war es: Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen (Mt 25,35).

Von alters her hat die Kirche auch die sogenannten geistigen Werke der Barmherzigkeit gekannt: Unwissende lehren, Zweifelnden raten, Irrenden Weisung geben, Trauernde trösten, Unrecht ertragen, Beleidigungen verzeihen, für Lebende und Tote beten. Sie sind bereits Zeichen der endgültigen Ordnung der Liebe im Reich des Vaters, die nicht im gegenseitigen Verrechnen und Aufwiegen besteht, sondern im seligen Geben und Nehmen unter den Augen des Vaters. Sie sollen ein vielfaches Echo des Wortes Christi sein: Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist und sollen einen ständigen Widerhall im Alltag des Christen finden.

Aus meinem Buch "Jahrgang 1945"

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