MÜDE GEWORDEN

Geschrieben am 10.02.2020
von Joachim Heisel

MÜDE GEWORDEN

Das Christentum in Europa hat einen schweren Schritt bekommen. Viele wollen es nur noch durch die Brille seiner wirklichen oder vermeintlichen Skandale und aktueller Missstände sehen. Vor ein paar Tagen fiel mir ein Werbeprospekt für ein Priesterseminar in Vietnam in die Hände. Er zeigte das Bild eines jungen Seminaristen, der einer Familie entstammte, die mehrere Mitglieder durch Kirchenverfolgung verloren hatte. Im seinem Priesterseminar bereiten sich über neunzig junge Männer auf das Priestertum vor.

Nach 1945 waren auch bei uns die Priesterseminare überfüllt. Zwölf Jahre eines gottlosen Regimes hatten ein Meer von innerem und äußerem Elend angerichtet. Wenn man heute die Bilder der ersten Fronleichnamsprozessionen nach dem Krieg in München und Köln anschaut, kann man sehen, wie Menschen zwischen Trümmern zu Tausenden beten und niederknien. In Köln sieht man vor der apokalytisch anmutenden Trümmerlandschaft der Kölner Innenstadt die riesigen Türme des Doms zum Himmel ragen wie Finger, die nach oben weisen. Die Kirche war die einzige Institution, die halbwegs intakt aus den Trümmern herausgezogen wurde. Die große Mehrzahl ihrer Priester hatte dem Regime widerstanden. Nicht wenige waren Märtyrer für Glauben und Menschlichkeit geworden, auch viele Laien.

Viele Männer und Frauen, die damals in der Stunde Null nach der Götterdämmerung des sogenannten Drittes Reichs Verantwortung übernahmen, waren Christen. Und auch die ersten Schritte zur Versöhnung waren christlich inspiriert. Es waren Männer wie Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Charles de Gaulle, die ein gemeinsamer Glaube verband, der sie befähigte, sich die Hand zur Versöhnung zu reichen. Am 8. Juli 1962 nahmen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer gemeinsam an einem Friedensgottesdienst in der Kathedrale von Reims teil und reichten sich die Hände zum Friedensgruß. All das dürfen wir nicht vergessen.

Ohne das Christentum wäre Europa nicht das, was es geworden ist. Ein Gott wird Mensch im Schoss einer Frau. Hier nimmt die Würde der Frau ihren Anfang. Ein Gott, der als Mensch das schlimmste Schicksal mit seinen Geschöpfen teilt, ist das Urbild der Solidarität mit dem Schwächeren, das trotz aller Sündenfälle der Geschichte Kennzeichen unserer Zivilisation und Kultur ist.

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