RHEINISCHE SYMPHONIE

Geschrieben am 17.10.2020
von Joachim Heisel


Ich bin unterwegs im Rheinland auf der A 61. Mir zu Füßen  das Rheintal unter tiefliegenden Wolken im wechselnden Herbstlicht, das aus der Autobahn eine silbrige Kette macht, im Rückspiegel ein Regenbogen, in meinen Ohren die Rheinische Symphonie von Robert Schumann, Herbst, fallende Blätter. Je nach Alter beginnt man sich jetzt zu fragen, ob man all diese vertrauten Landschaften und Orte noch öfter sehen wird.  Es gibt Abschiede, die man nicht nachholen kann.

Mancher Abschied wächst noch im Nachhinein. Hier haben meine Vorfahren gelebt, in Kruft und Bengel oder Burg an der Mosel. Einfache Leute, Bauern, Schäfer; einige habe ich als Kind noch gekannt. Wir haben sie nach dem Krieg, als Lebensmittel in der Stadt rar waren, besucht und haben Fleisch und Schinken von ihnen bekommen, manchmal auch gegen Hilfe in der Landwirtschaft. Ich stelle mir vor, wie sie gelebt haben, bete für sie. Es tut gut, sich mit ihnen zu verbinden. Von hier zog meine Großmutter um 1895 mit ihren Eltern und Geschwistern in die Stadt, nach Trier. Das Leben dieser Menschen war von unserem sehr verschieden und doch sind sie ein Stück von uns. Wir haben teilweise gemeinsame Gene, die auch unser Leben mitbestimmen. Die neuere Forschung der Epigenetik hat erwiesen, dass auch Erfahrungen und  erworbene Eigenschaften  weitergegeben werden. Wir meinen zwar, dass unser Leben einzigartig ist, aber vieles erklärt sich auch daraus. Wir sind mit unseren guten und weniger guten Eigenschaften Glieder einer langen Kette.

Es ist gut, sich mit denen zu verbinden, die vor uns waren. Rudolf war ein Bruder meiner Großmutter, den die Nazis mit einer Spritze umgebracht haben, weil er psychisch krank aus dem Ersten Weltkrieg gekommen war. Es gibt noch Postkarten, die er seiner Schwester aus dem Feld geschrieben hat, wo er in Uniform abgebildet ist, oder der andere Bruder Josef, der Schäfer war und nur wenig sprach und Katharina, die ältere Schwester, die sich um die Geschwister kümmerte, als die Mutter früh starb. Sie hatte einen kleinen Garten und verkaufte auf einem Stand auf dem Trierer Hauptmarkt Gemüse und Blumen, die sie in ihrem Garten anbaute. Da sie unverheiratet blieb, konnte  sie die Familie ihrer Schwester mit ihren kargen Einnahmen unterstützen. Zeit ihres Lebens war sie für andere da. Da sie sehr fromm war, ging sie als erstes morgens zur Messe in die am Markt gelegene Gangolfkirche. Sie nahm dabei in Kauf, dass sich in der Zeit, wo sie ihren Stand allein ließ, einige Kunden selbst bedienten. Solche  Leben waren nicht umsonst. Sie sind in Gott geborgen.

Dann kommt  die Autobahnabfahrt zum Laacher See, der wie ein dunkles Auge in den Eifelwäldern liegt. In der Tiefe schlummert noch der junge Vulkan , aus dem er vor 13000 Jahren entstanden ist, und sendet in Form von Tönissteiner Sprudel Botschaften aus der Tiefe. Seit 900 Jahren beten hier Benediktinermönche. So lange schon ragen die Türme der romanischen Kirche aus der Zeit der Salier in den meist wolkengrauen Himmel der Eifel.

Das Kloster hat schon viele Zeitenwenden erlebt, die radikalste in der Zeit der Säkularisation. Vernunft und Wissenschaft und die Ideale der Französischen Revolution waren die Ideologie von damals. Nachdem französische Revolutionstruppen das Rheinland erobert hatten und Frankreichs Grenze am Rhein lag, wurde auf Befehl Napoleons das Kloster 1803 aufgelöst und die verbleibenden siebzehn Mönche in Rente geschickt. Gebäude und Besitz des Klosters wurden versteigert. Erst 1892 konnten Benediktinermönche aus Benediktbeuren auf Grund eines Erlasses von Kaiser Wilhelm II. wieder zurückkehren. Später in der Zeit des Nationalsozialismus lebte Konrad Adenauer auf Einladung des damaligen weltweit bekannten Abtes Ildefons Herwegen ein Jahr als „Bruder Konrad“ im Kloster, um sich der Verfolgung durch die Nazis zu entziehen.

Jetzt scheint sich das christliche Abendland auch hier in der ältesten  christlichen Region Deutschlands eine neue Säkularisation verordnet zu haben. Von einem  befreundeten Priester aus der Gegend habe ich erfahren, dass in seiner Pfarrei von vormals 57 Prozent Gottesdienstbesuchern nur noch 3 Prozent sonntags zur Messe gehen. Kirchen werden säkularisiert, Klöster mangels Nachwuchs aufgelöst.

Im Alten Testament im Buch Kohelet, dessen Autor in pessimistischem Ton die Welt beschreibt, heisst es: Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues - aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.

Ich weiß nicht, ob Kohelet dies angesichts von technischer und digitaler Revolution auch heute so sagen würde, aber für den Verlauf der Geschichte vielleicht doch. Wissenschaftler glauben errechnen zu können, dass bisher schon etwa hundert Milliarden Menschen auf der Welt gelebt haben. Wir sind nur ein kleiner Teil von ihnen.

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