VERGEBEN

Geschrieben am 17.04.2021
von Joachim Heisel


Corrie ten Boom (1892-1983) wuchs in einer christlichen Familie in Haarlem in den Niederlanden auf. Ihr Leben im Elternhaus war von tiefer Frömmigkeit geprägt. Als sie fünf Jahre alt war, hatte ihr die Mutter gesagt: „Jesus steht an der Tür deines Herzen. Wenn du ihn einlädst, dann tritt er ein“. Und sie hatte geantwortet: „Ja, ich will ihn in mein Herz einladen“. Die Herzensverbindung mit Jesus bestimmte fortan ihr Leben und ihr Handeln. Die Familie unterhielt viele freundschaftliche Beziehungen zu Juden, die der Vater von Corrie als „Gottes altes Volk“ bezeichnete.

Als 1940 deutsche Truppen die Niederlande besetzten und viele Juden verhaftet und deportiert wurden, beschloss die Familie von Corrie,  jüdische Familien in ihrem eigenen Haus zu verstecken und eine Untergrundorganisation zur Rettung von Juden zu gründen. So  konnten sie viele Juden retten. Als das verraten wurde, verhaftete die Gestapo den Vater von Corrie, der 1944 in der Haft starb. Corrie und ihre Schwester Betsie wurden ins KZ Ravensbrück deportiert.

Dort erlitten sie schwere Misshandlungen und mussten hungern. In der Baracke, wo sie auf engem Raum mit vielen anderen Frauen leben mussten, herrschte eine Atmosphäre von Hass gegen die brutalen Aufseherinnen aber auch unter den Häftlingen selbst. Auch in Corrie steigt dieser Hass auf, aber Betsie sagt zu ihr: „Corrie, wenn man die Menschen lehren kann zu hassen, muss man sie auch lehren können zu lieben. Wir müssen einen Weg finden, du und ich. Ganz gleich wie lang es dauert.“ Corrie und Betsie fingen an, mit den anderen Frauen zu beten: „Herr Jesus, schicke deinen Frieden in diesen Raum. Es ist hier zu wenig gebetet worden. Aber wo du erscheinst, Herr, muss der Geist der Zwietracht weichen“.

Betsie hatte eine Bibel in das Lager geschmuggelt, aus der sie und ihre Schwester vorlesen. Allmählich ändert sich die Atmosphäre in der Baracke zum besseren, aber Betsie stirbt an den Folgen der Haft noch im Lager. Corrie ist am Boden zerstört. Betsie hatte bis zuletzt ihren Peinigern vergeben und nach ihrem Tod drückte ihr Gesicht einen himmlischen Frieden aus. Das gab Corrie Hoffnung. Nach dem Krieg setzt sie einen Plan um, den sie mit ihrer Schwester noch im KZ gefasst hatte. Sie gründete Rehabilitationszentren für Menschen, die infolge des Krieges an Leib und Seele verwundet waren. Sie beginnt, Vorträge über Versöhnung in der ganzen Welt zu halten.

Nach einem Vortrag im Jahre 1947 im zerstörten Deutschland kam ein Mann auf sie zu, den sie sofort erkannte. Er war einer der Aufseher des KZ Ravensbrück. Er sagte, dass er Christ geworden sei und bat sie um Vergebung für alles, was er ihr und ihrer Schwester getan hatte und streckte ihr seine Hand entgegen. Die Erinnerung an all das Schlimme, was sie erlebt hatte und an den Tod ihrer Schwester stieg in ihr hoch. Jetzt war der Moment gekommen, wo Jesus sie beim Wort nehmen wollte. Sie dachte an die Worte Jesu: „Wenn ihr den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben (Mt 6,15)“.Wie oft hatte sie in ihren Vorträgen gesagt: „Nur jene, die ihren früheren Feinden vergeben, sind in der Lage, ihr Leben wieder neu in die Hand zu nehmen.

Sie zögerte eine Sekunde, die für sie eine Ewigkeit war und kämpfte mit sich: Kann ich diesem Menschen überhaupt verzeihen, der den Tod meiner Schwester mit verschuldet hat? Sie betete: „Jesus hilf mir! Ich kann ihm nicht vergeben. Schenke mir Deine Vergebung! Schließlich legte sie ihre leblose und kalte Hand in die des ehemaligen SS-Mannes. Als sie das getan hatte – so berichtet sie - „durchflutete mich eine heilende Wärme. In meinem Herzen loderte eine Liebe zu diesem Fremden auf, die mich überwältigte. Und unter Tränen konnte ich sagen: „Ich vergebe dir, Bruder, von ganzem Herzen“. Und sie sagt weiter: Für einige Augenblicke hielten wir uns ganz fest: der ehemalige Wärter und die ehemalige Gefangene. Nie zuvor hatte ich Gottes Liebe so intensiv erlebt wie in diesem Moment. Und ich entdeckte, dass die Heilung der Welt weder von unserer Vergebung noch von unserer Güte abhängt, sondern allein von der Seinen. Wenn er uns sagt, dass wir unsere Feinde lieben sollen (vgl. Mt 5,44), dann schenkt er uns mit dem Gebot auch die notwendige Liebe dazu“.

Quelle: Nacherzählung aus der Zeitschrift „Der Ruf des Königs“ Nr.77, Artikel von P. Martin Linner SJM

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