ÜBER SICH HINAUS

Geschrieben am 22.05.2024
von Joachim Heisel


In einem Vortrag vor Studenten in Köln in den 1970er Jahren, bei dem auch ich anwesend war, sagte Viktor Frankl (1905-1997 ), der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, kein Instinkt sage dem heutigen Menschen, was er tun muss und keine Tradition, was er tun soll. Deshalb müsse der Mensch einen Willen zum Sinn entwickeln, auch in aussichtslosen Situationen.

Viktor Frankl hat das vorgelebt. Als Jude verlor er  seine Familie im Holocaust. Er selbst war drei Jahre im KZ und überlebte durch glückliche Umstände und  den Willen zum einem Sinn -  nämlich , der Nachwelt Zeugnis über das grausame Geschehen im KZ ablegen zu können. Als er schwer an Fleckfieber erkrankt war, wusste er, es wäre sein Todesurteil, wenn er in seinem Schwächezustand morgens nicht mehr von seiner Pritsche  aufstehen würde. Es war der Wille zum Sinn, der ihn zum Aufstehen und Überleben motivierte. Die Frage nach dem Sinn stellt sich in solchen Extremsituationen mit aller Schärfe.

In Zeiten des Wohllebens wird sie verdrängt oder in psychotherapeutischen Sitzungen zu Kleinholz verarbeitet. Wenn wir morgens aufstehen, stellt sich uns die Sinnfrage nur im ersten Moment. Dann greift die Routine des Alltags und wir fangen wieder an zu funktionieren. Manchmal stellt sich uns die Frage nach einem tieferen Sinn unvermittelt nach einem Unfall oder wenn uns der Arzt eine gravierende Diagnose mitteilt. Oder wenn wir nach der Rente in einen neuen Lebensabschnitt eintauchen und die Sinnstiftung durch die Arbeit entfällt. So lassen sich manche  Paare noch im Alter scheiden. Auslösend ist dann oft die Frage: War das schon alles? Auch die  Pandemie hat  grundsätzliche Fragen in uns hochkommen lassen. Etwa, wenn Personen aus unserem Umfeld schwer erkrankt und sogar starben oder wir selbst betroffen waren. 

Viktor Frankl sprach davon, dass in jedem Menschen von Natur aus die Fähigkeit zur „Selbsttranszendenz“ d.h. der Fähigkeit, über sich selbst hinauszusehen, angelegt ist und dass jede wahre Sinnsuche dem entsprechen muss.
„Das Menschsein weist immer über sich hinaus, auf etwas oder jemanden hin, auf eine Sache, in deren Dienst man sich stellt oder auf einen Mitmenschen, dem man sich liebend hingibt. Nur im Dienst einer Sache und in der Liebe zu einer Person, wird der Mensch er selbst, ist er ganz Mensch.“ (Viktor Frankl)

Christus sagt dazu: „Wenn das Samenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24) 

Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie. Friedrich Nietzsche (1844-1900)

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