ANNI

Geschrieben am 08.01.2022
von Joachim Heisel


Vor einigen Jahren erzählte mir eine Patientin von einem Besuch auf der onkologischen Station, wo sie nach einer Operation noch weiter betreut wurde:

Eigentlich wollte ich  nicht hochgehen auf die Station. Ich war ja nur in die Ambulanz gekommen, um meine  Infusion zu bekommen. Aber dann bin ich  doch zu Anna gegangen. Wir waren zwei Wochen zusammen in einem Zimmer gelegen. Wir hatten uns  gut verstanden und einander Trost gespendet. Ich bin operiert worden, für Anna war es schon zu spät. Ihr Mann wollte sie zum Sterben nach Hause auf den Bauernhof mitnehmen. Als ich entlassen wurde, sagte ich zu Anna: „Wenn i in die Ambulanz komm, dann besuch i di“. „Mei, des wär schö“, sagte Anna. Als ich dann ins Zimmer trat, fand ich Anna ganz blass und mager im Bett. Nur über dem Bauch war die Bettdecke gewölbt wie über einem Hügel. „Hallo, hier bin i, ich wollt noch mal schauen, wie es Dir geht“. Anna schlug langsam die Augen auf. „Guat geht’s, guat“, sagte sie leise. Dann schloss sie wieder die Augen. Ich streichelte sie an der Wange. Die Haut war trocken und kalt. Anna atmete schwer und rang nach Luft. Soll ich dich was höher rauf setzen, dann kriegst besser Luft? Anna antwortete nicht. Ihr Atem hatte dann plötzlich ausgesetzt. Ich bekam Panik. „Anni, Anni, was ist mit dir?“ Aber Anni konnte nicht mehr antworten. Sie war bereits tot. Ich lief zur Stationsschwester. „Ich glaube, die Anna ist gerade gestorben“. Der Pfarrer kam und wir sprachen ein Gebet zusammen. Am Abend rief mich der Mann an. Ich konnte ihm sagen, dass seine Frau ganz friedlich eingeschlafen war und dass ich bis zuletzt bei ihr war. Im letzten Augenblick war ich bei ihr, nicht ihr Mann, nicht ihre drei Söhne, nicht ihre Mutter, nur ich, der ich ganz zufällig einen Besuch bei ihr machte.

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