Ich vergesse nie eine schon siebzigjährige Patientin, die mir traurig erzählte, sie habe noch nie in ihrem Leben einen wirklich guten Menschen getroffen. Tatsächlich ist es ein großer Schmerz, immer wieder mit der eigenen Beschränktheit und der der Anderen konfrontiert zu sein, wo doch der Blick des Menschen als einzigem aller Wesen dieser Erde über den Horizont dieser Welt hinaus reicht. Aber wir alle müssen uns selbst und unseren Mitmenschen verdeutlichen, dass wir nicht Gott sind, „denn nur Gott allein ist gut“ (Lk 18, 18). So können wir uns frei machen von übersteigerten Ansprüchen und Erwartungen an uns selbst und an Andere.
Junge Menschen werden haltlos, wenn es nicht gelingt, das Heilige in ihren Herzen zu verankern, weil sie spüren, dass es etwas Bleibendes, Unverrückbares in ihrem Leben geben muss, wenn es Sinn haben soll. Wenn wir unseren Kindern gegenüber der Schule und den Medien die Erklärung der Welt überlassen und ihren Blick nicht über das banale, manchmal auch brutale Alltagsgeschehen hinaus lenken, dürfen wir uns nicht wundern, wenn ihnen das Leben banal und zynisch erscheint und sie in schwierigen Situationen verzweifeln.
Gott ist der Heilige und sein Name ist heilig, weil nur er umfassend Heil geben kann. Gott kann, bildlich gesprochen, sein Heil in das Herz des Menschen gießen und es ganz erfüllen. Das nennt die Theologie Gnade. Es ist das Geschenk an den Menschen, durch das er am Leben Gottes Anteil haben darf. Allerdings muss der Mensch bereit sein, sich auf dieses Geschenk einzulassen. Deshalb spricht der Mystiker Meister Eckart (1260-1328) vom ledigen (leeren) Gefäß, das jeder Mensch Gott gegenüber sein müsse.
Der Mystiker Gerhard Teerstegen (1697-1769) drückt das in einem Gedicht so aus:
Ach wär mein Geist so rein, so bilderlos und still,
Gleich wie ein weißes Blatt, worauf man schreiben will,
Bald würde Gottes Sohn durch seines Lichtes Strahlen
Sein wunderschönes Bild in meinem Grunde malen.
Die Theologie hat die Fähigkeit des Menschen, sich diesem „Angebot“ Gottes zu öffnen „potentia oboedientialis“ (Gehorsamsfähigkeit) genannt, eine Affinität des Menschen zu Gott, die ihm auf Grund seiner Gottähnlichkeit inne wohnt. Der Mensch birgt in sich die Fähigkeit, zur Sonne aufzuschauen und seinen Blick zu Gott zu erheben.
Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnte es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?
(Johann Wolfgang von Goethe)
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