DER WERT DER ROSE

Geschrieben am 19.12.2025
von Joachim Heisel


Der Dichter Rainer Maria Rilke kam mit einer jungen Französin regelmäßig um die Mittagszeit an einem Pariser Platz vorbei, wo eine Bettlerin teilnahmslos immer am gleichen Ort saß. Nur eine ausgestreckte Hand verriet ihre Bitte. Die Begleiterin Rilkes gab der Frau häufig eine Münze, Rilke selbst nie. Er sagte: „Wir müssten ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“

Wenige Tage später legte Rilke der Bettlerin eine eben aufgeblühte Rose in die geöffnete Rechte. Da geschah das Unerwartete: Die Frau blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam vom Boden, küsste die Hand des Fremden und ging mit der Rose weg. Erst nach einer Woche saß die Bettlerin wieder an ihrem Platz, wie gewohnt stumm und mit ausgestreckter Hand. Wovon hat sie denn die Tage gelebt, in denen sie nichts erhielt, überlegte die Französin. Rilke antwortete: „Von der Rose.“ Das Fernbleiben der Frau mag eine prosaischere Erklärung gehabt haben, als der Lyriker Rilke vermutete.
Jemandem eine Rose zu schenken, der nicht einmal das Nötigste zum Leben hat, kann Hohn sein. Wenn er aber ein Mensch ist, der wie Christus sagt „nicht allein vom Brot lebt” (vgl. Mt 4,4), bedeutet es eine Bestätigung seiner Würde als Mensch, der viel mehr ist als sein Stoffwechsel. Der Mensch „ist“ eben nicht nur, was er „ißt“, wie Brecht gemeint hat.

Rainer Maria Rilke war ein österreichischer Schriftsteller (1875 - 1926) und ist einer der bedeutendsten Lyriker  deutscher Sprache im im 19. und 20. Jahrhundert. Heuer feiern wir seinen 150. Geburtstag.

Nächster Blogbeitrag 20.12.25